IAAP-Zertifikate für Accessibility Professionals: Was sie bringen, was sie kosten – und warum Erfahrung manchmal mehr zählt
Digitale Barrierefreiheit ist heute ein entscheidender Faktor für den Erfolg digitaler Angebote. Immer mehr Unternehmen, öffentliche Einrichtungen und Agenturen erkennen die Bedeutung barrierefreier Websites, Anwendungen und Dokumente. Damit wächst auch der Bedarf an qualifizierten Fachkräften. Wer im Bereich Barrierefreiheit arbeitet, stößt früher oder später auf die IAAP-Zertifikate für Accessibility Professionals. Doch was steckt hinter diesen Zertifikaten? Was kosten sie, was bringen sie – und wann sind sie vielleicht gar nicht nötig?
Dieser Artikel erklärt ausführlich, welche Zertifikate für digitale Barrierefreiheit die IAAP anbietet, wie man sie erwirbt, wie sie verlängert werden – und beleuchtet auch, warum langjährige praktische Erfahrung mindestens ebenso wertvoll ist wie ein formaler Nachweis.
Was ist die IAAP?
Die International Association of Accessibility Professionals (IAAP) ist eine weltweite Fachorganisation, die sich ganz der Professionalisierung im Bereich digitale Barrierefreiheit widmet. Sie wurde 2014 gegründet und ist seit 2016 Teil der G3ict, einer globalen Initiative zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien. Die IAAP verfolgt das Ziel, durch Bildung, Standards und Zertifizierungen einheitliche Qualifikationen für Accessibility Professionals zu etablieren.
In der Fachwelt gelten die IAAP-Zertifikate als international anerkannter Nachweis für Fachwissen in digitaler Barrierefreiheit – insbesondere, wenn es um Webstandards wie die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines), internationale Gesetze oder barrierefreie Softwareentwicklung geht.
Welche Zertifikate bietet die IAAP an?
Das bekannteste Zertifikat ist das CPACC – Certified Professional in Accessibility Core Competencies. Es gilt als Einstiegszertifikat und vermittelt grundlegende Kenntnisse über Barrierefreiheit, darunter rechtliche Rahmenbedingungen, technische Standards und gesellschaftliche Zusammenhänge. Wer bereits praktische Erfahrungen in der Webentwicklung mitbringt und tiefer ins Thema einsteigen möchte, kann sich zum WAS – Web Accessibility Specialist zertifizieren lassen. Dieses Zertifikat richtet sich vor allem an Entwickler:innen und technische Fachkräfte, die sich mit barrierefreier Codierung, assistiven Technologien und der Anwendung von ARIA-Rollen auskennen.
Wer beide Prüfungen erfolgreich ablegt, erhält zusätzlich den Titel CPWA – Certified Professional in Web Accessibility, der eine umfassende Qualifikation bescheinigt.
Seit Kurzem bietet die IAAP auch ein weiteres Zertifikat mit Fokus auf barrierefreie Dokumente an – den ADS – Accessible Document Specialist. Dieses befindet sich derzeit noch in der Pilotphase und richtet sich an Personen, die in der Erstellung und Prüfung barrierefreier PDFs und Office-Dokumente tätig sind.
Wie läuft die Zertifizierung ab?
Die Prüfungen werden online abgelegt, bestehen aus Multiple-Choice-Fragen und sind nur auf Englisch verfügbar. Die CPACC-Prüfung dauert zwei Stunden und umfasst etwa 100 Fragen. Die WAS-Prüfung ist mit rund 75 Fragen etwas kürzer, erfordert jedoch ein deutlich tieferes technisches Verständnis. Die Prüfungsinhalte orientieren sich stark an internationalen Standards, insbesondere an den WCAG, der Section 508 (USA) und der EN 301 549 (Europa).
Ein Zertifikat hat eine Gültigkeit von drei Jahren. Danach muss es entweder durch eine erneute Prüfung oder durch den Nachweis kontinuierlicher Weiterbildung verlängert werden. Für CPACC sind dafür 45 sogenannte CAECs – Continuing Accessibility Education Credits – notwendig. Diese Punkte lassen sich zum Beispiel durch Fachkonferenzen, Webinare oder Schulungen sammeln. Auch hier entstehen Kosten, denn die Re-Zertifizierung ist nicht kostenlos – sie schlägt mit rund 125 bis 150 US-Dollar zu Buche.
Was kostet ein IAAP-Zertifikat?
Die finanziellen Hürden sind nicht zu unterschätzen. Wer das CPACC-Zertifikat erwerben möchte, zahlt derzeit 425 US-Dollar, wenn er oder sie kein Mitglied der IAAP ist. Mitglieder erhalten einen Rabatt und zahlen 325 US-Dollar. Die WAS-Zertifizierung ist mit 475 US-Dollar für Nicht-Mitglieder und 375 US-Dollar für Mitglieder noch etwas teurer. Wer beide Prüfungen ablegt und somit die CPWA-Zertifizierung erhält, muss also mit Gesamtkosten von rund 800 bis 900 US-Dollar rechnen – ohne zusätzliche Ausgaben für Vorbereitungsmaterialien, Trainings oder mögliche Wiederholungsprüfungen.
Was spricht für eine IAAP-Zertifizierung?
Ein Zertifikat wie CPACC oder WAS ist ein strukturierter, international vergleichbarer Nachweis von Fachkenntnissen. In vielen Organisationen – besonders im öffentlichen Sektor oder in internationalen Agenturen – wird der Nachweis einer formalen Qualifikation im Bereich Barrierefreiheit immer häufiger gefordert. Das gilt insbesondere für die Teilnahme an Ausschreibungen oder für die Rolle als interne:r Accessibility-Verantwortliche:r.
Darüber hinaus kann die strukturierte Vorbereitung auf die Prüfung dabei helfen, vorhandenes Wissen zu systematisieren und Lücken zu schließen. Wer also gerade neu in das Thema digitale Barrierefreiheit einsteigt oder sich beruflich weiterentwickeln möchte, findet in den IAAP-Zertifikaten eine sinnvolle Orientierung und ein anerkanntes Qualifikationsziel.
Warum ein Zertifikat nicht gleich Expertise bedeutet
Trotz der genannten Vorteile sind die Zertifikate nicht unumstritten. Der wohl wichtigste Kritikpunkt: Ein bestandener Multiple-Choice-Test macht niemanden automatisch zum oder zur Accessibility-Expert:in. In der Praxis geht es um mehr als um die Kenntnis von WCAG-Kriterien. Es geht darum, komplexe Anforderungen zu verstehen, mit Betroffenen zu kommunizieren, individuelle Lösungen zu finden – und dabei technische, rechtliche und gestalterische Aspekte zu verbinden.
Zudem sind die Prüfungen nur auf Englisch verfügbar, was den Zugang für viele Fachkräfte erschwert. Auch die inhaltliche Ausrichtung ist stark vom US-amerikanischen Kontext geprägt. Gerade in Europa – mit eigenständigen Normen wie der EN 301 549 – lassen sich nicht alle Inhalte eins zu eins übertragen. Hinzu kommt, dass die Zertifikate relativ teuer sind. Für Einzelpersonen oder kleinere Unternehmen stellen sie nicht selten eine finanzielle Hürde dar.
Ein weiterer Aspekt ist die geringe Aussagekraft in Bezug auf echte Praxiserfahrung. Bei anatom5 arbeiten wir seit über zwei Jahrzehnten fast ausschließlich im Bereich digitale Barrierefreiheit. Unsere Expertise beruht jahrelanger Erfahrung im Bereich Accessibility-Testing und Beratung sowie auf hunderten realen Projekten – nicht auf einer Zertifikatsprüfung. Wir sind seit 10 Jahren Prüfstelle beim BIK BITV-Test Prüfverbund. Wir setzen jedes Jahr hunderte Seiten barrierefreier PDF-Dokumente um. Wir entwickeln jedes Jahr barrierefreie Webprojekte, die nachgewiesenermaßen den BIK BITV-Test bestehen können. Digitale Barrierefreiheit ist unser Daily Business. Digitale Barrierefreiheit ist unsere DNA – auch ohne IAAP-Zertifikate.
Genau deswegen genießen wir seit vielen Jahren das Vertrauen von Ministerien, Verbänden und großen und mittleren Unternehmen.
Fazit: Zertifizierung als Möglichkeit – nicht als Maßstab
IAAP-Zertifikate wie CPACC oder WAS sind ein nützliches Instrument, um Fachwissen im Bereich digitale Barrierefreiheit nach außen sichtbar zu machen. Wer neu im Bereich ist, wer international arbeiten möchte oder wer sich persönlich strukturierter mit dem Thema auseinandersetzen will, profitiert von dieser Art der Qualifizierung. Aber: Ein Zertifikat allein ersetzt keine langjährige Erfahrung. Und auch kein echtes Verständnis für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Barrierefreiheit ist kein Prüfungsfach – sie ist eine Haltung. Eine, die man lebt, lernt und weiterentwickelt. Genau darum geht es uns bei anatom5.